Bewertung im Recht

Bewertung im Recht

Fachportal für Bilanz- und Gesellschaftsrechtliche Bewertungsfragen
 

Kurzportrait

Bilanz- und/oder gesellschaftsrechtliche Bewertungsfragen sind in den letzten Jahren Gegenstand intensiver Diskussion in Wissenschaft, Rechtsprechung und Praxis. Auslöser sind vor allem die Internationalisierung und die angestrebte Harmonisierung der Rechnungslegung im Zuge der verpflichtenden Anwendung der sogenannten International Financial Reporting Standards (IFRS) für kapitalmarktorientierte Konzerne sowie die Zunahme gesellschaftsrechtlicher Abfindungsfälle seit der Einführung des sogenannten aktienrechtlichen Squeeze-out am 1. Januar 2002.

Die Rechnungslegung ist ein Rechtsakt; sie ist damit nicht lediglich für Betriebswirte, sondern auch für Juristen von Interesse. Bilanzrecht soll verhindern, dass ein Bilanzierungspflichtiger Ergebnisse „schönrechnet“. Es dient der Kontrolle von Macht. Wo Vorstände oder Geschäftsführer, Aufsichtsräte und Abschlussprüfer dies missachten, treten Haftungsfragen ins Blickfeld. Gemäß dem Grundsatz der Bilanzwahrheit ist „ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage“ gefordert (§ 264 Abs. 2 Satz 1 HGB). Das gilt im Sinne einer getreuen Darstellung allgemein für die Bilanzierungspflichten aller Kaufleute (§ 243 Abs. 1 HGB). Es umfasst neben Jahresabschlüssen auch den Konzernabschluss nach deutschen (§ 297 Abs. 2 HGB) bzw. internationalen Normen (§ 315a HGB).
 
Die Unternehmensbewertung als zentrales Element der internationalen Finanzberichterstattung tritt mehr und mehr in das Blickfeld der rechtlichen Betrachtung.
Dabei stellt die steigende Komplexität der Rechnungslegung die Bilanzierungspflichtigen und deren Abschlussprüfer vor neuen Aufgaben. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt auf das Vor- und Durchdringen internationaler Bilanzierungssichten („Fair Value“-Bilanzierung) und ihr hineinwirken in Konzern- und zunehmend auch in Einzelabschlüsse zurückzuführen. Damit enthält die Bilanz Posten, die ihrerseits geprägt sind von weitreichenden Werteinschätzungen über das Unternehmen als Ganzes und damit über den Grundsatz der Einzelbewertung (§ 252 Abs. 1 Nr. 3 HGB) hinausgehen. Insofern bildet der Bereich der bilanzrechtlichen Bewertung eine interdisziplinäre Schnittstelle zwischen der Betriebswirtschaftslehre einerseits und der Rechtswissenschaft andererseits, weil auch die Rechtswissenschaft nicht völlig auf die Erkenntnisse der betriebswirtschaftlichen Unternehmensbewertungslehre verzichten kann. Für eine bilanzrechtliche Betrachtung bedeutet dies, dass die in der Bewertungslehre gewonnenen Erkenntnisse unter Beachtung der von der Rechtswissenschaft gesetzten Normgrenzen zu verwenden sind. Der Bilanzierungspflichtige muss sich zu jedem Abschlussstichtag der Aufgabe stellen, die Realität seines Unternehmens in eine rechtskonforme Zahlenwelt zu überführen und sie transparent zu machen.
 
Somit dringt die Unternehmensbewertung mehr und mehr in das Bilanzrecht ein. Bewertungsfragen gehören zu den schwierigsten betriebswirtschaftlichen Herausforderungen, die ein Unternehmen in der täglichen Praxis und darüber hinaus zu bewältigen hat. Schließlich besteht in der modernen Bewertungslehre Konsens darüber, dass es den „wahren“, objektiv feststellbaren Wert nicht gibt. Vielmehr sind alle derzeit praktizierten Methoden der Bewertung mehr oder weniger unvollkommene Näherungsinstrumente, die subjektive Zukunftsprognosen erfordern, die so oder anders getroffen werden können, ohne dass sie per se als falsch einzustufen wären. Aus rechtlicher Sicht bedeutet dies jedoch nicht völlige Freiheit oder Beliebigkeit der Methodenwahl; vielmehr ist in Abhängigkeit vom konkreten Bewertungsanlass zu fragen, welches oder welche Bewertungsverfahren dem jeweils zu verwirklichenden Zweck der betrachteten Rechtsnorm – kurz: dem Normzweck – am ehesten Rechnung trägt bzw. tragen.